Ausgabe2003/17 - 11. September, Seite 4
ThemaPortrait: Die Heidekrüger-Brüder und die S-Bahn
Was die Heidekrüger-Brüder von klein auf zusammenschweißt:
Die Liebe zur S-Bahn

Selten teilen Geschwister die gleichen Interessen. Noch seltener, wenn gleich vier ein gemeinsames Interesse zum Lebensinhalt machen. Aber die Berliner S-Bahn schafft so was. Vier Brüder Heidekrüger, aufgewachsen am S-Bahnhof Betriebsbahnhof Rummelsburg, hat sie in ihren Bann gezogen: Drei sind als Triebfahrzeugführer bei der S-Bahn unterwegs und der Vierte wäre es auch, wenn nicht die Wendefolgen dazwischen gefunkt hätten.


Die Heidekrüger-Brüder Mike, Lars und Jens (v.l.); Mike und Jens sind Triebfahrzeugführer der S-Bahn; Lars hofft, dass es bei ihm auch noch klappt.

Vor allem für Jens, Lars und Mike Heidekrüger war die S-Bahn schon immer das einigende Band. Aber ihrem ältesten Bruder Sven, inzwischen 36, Familienvater und etwas weitab in Strausberg wohnend, verdanken sie die Vorliebe für
die S-Bahn: „Unser Großvater, der Reichsbahner war, hat ihn angesteckt. Sven besaß eine Modellbahnanlage, mit der wir auch sehr gerne spielten und er nahm uns zu Ausstellungen mit. Schließlich ging er als Erster beruflich zur S-Bahn“, erzählt Mike.

„Wir haben damals im Hochhaus im 13. Stock gewohnt, nur 200 Meter vom Betriebsbahnhof Rummelsburg entfernt. Unsere Übersicht über den Bahnhof war besser als die der Fahrdienstleiter. Wir sahen die Züge bis Ostkreuz.“

„Das Schönste am Sommer waren die S-Bahn-Fahrten zur Schule“

Außerdem fuhren sie ständig selbst mit der S-Bahn. „Direkt vor der Haustür, da brauchten wir kaum Bus und Straßenbahn. Unsere Eltern besaßen kein Auto, so große gab es damals ja auch nicht. Höchstens den Barkas“, lacht Mike.

Besonders im Frühling und Sommer waren die Heidekrüger- Brüder viel mit der S-Bahn unterwegs. Lars erinnert sich: „Unsere Eltern hatten einen Garten in Rahnsdorf. Schon im Frühjahr hieß es, mit Sack und Pack hinaus ins Grüne, wo wir dann die ganze Zeit wohnten. Mann, wenn ich daran denke, was die gute, alte S-Bahn alles schleppen musste! Der reinste Packesel. Das Schönste war, in diesen Monaten jeden Tag mit der S-Bahn zur Schule und zurück zu fahren. Schon, als wir noch in die 1. und 2. Klasse gingen und kaum lesen konnten.“

Die Mutter habe gesagt: „Wenn ihr zurück in den Garten wollt und ein kurzes Wort vorn am Zug steht (Erkner), könnt ihr mitfahren. Wenn aber ein langes dort steht (Friedrichshagen), dann lasst ihn und nehmt den nächsten.“

Schön fanden die drei Brüder die Besuche bei Verwandten in Karow oder der Oma in Lichtenberg. „Die Strecken kannten wir nicht so gut wie unsere nach Erkner, deshalb waren sie besonders interessant“, erzählt Jens. „Spannend waren die Heimfahrten nach Geburtstagen, wenn in Ostkreuz unser Zug weg war. Dann hieß das fast 20 Minuten warten. Da blieb Zeit, in alle Richtungen S-Bahnen fahren zu sehen. Unsere Eltern fanden die Warterei nicht so schön. Das verstanden wir Kinder damals nicht.“

„Im Sommer blieben wir oft gleich hinter der offenen Fahrertür stehen“

Die drei Brüder ließen nichts aus, um ihre S-Bahn-Neugierde zu befriedigen. Mike erzählt: „Als die Führerstandstüren noch keine Sicherheitsschlösser hatten, schmulten wir durchs Schlüsselloch und beobachteten die Strecke. Am besten war es natürlich, wenn der Triebfahrzeugführer im Sommer die Tür offen ließ. Da waren wir nicht die einzigen, die die Fahrt lieber dort im Stehen verbrachten. Wir fühlten uns dann fast wie S-Bahn-Fahrer.“

„Wir sind froh, diese Zeit und diese Züge erlebt zu haben“

Oft radelten die drei Brüder an den Damm, um den Fahrern zuzuwinken. „Wie stolz waren wir, wenn einer zurück grüßte, hupte oder das Signal zum Schließen der Türen erklingen ließ! Zu Weihnachten durften wir zum Bahnhof, um den Fahrern eine Tafel Schokolade zu bringen. Nicht allen, aber einer oder zwei konnten sich immer freuen. Für die meisten kam das überraschend und für uns war es ein tolles Erlebnis. Ja, die S-Bahn hat unsere Kindheit und unser Leben geprägt“, betont Mike.

Bis vor kurzem fuhren sie noch mit den rot-gelben Altbauzügen auf der S 3. Zwei bis nach Erkner, wo sie jetzt leben; der Jüngste bis nach Rahnsdorf, wo er inzwischen mit den Eltern im einstigen Garten fest wohnt.

„Die alten Züge waren uns alle lieb, die Stadtbahner genauso wie die 477er, die als letzte Altbauzüge jetzt endgültig das Feld räumen. Das ließ in uns viele S-Bahn-Erlebnisse wieder aufleben, die wir in Erinnerung behalten.

Wir sind froh und dankbar, diese Zeit und diese Züge erlebt zu haben. Was uns jetzt schon fehlt, ist ihre summende Beschleunigung, das Atmen der Bremsen und ihr unverwechselbarer Charme. Schade, dass es nun bald unwiderruflich für sie heißt – Zurückbleiben!“

Am 2. November veranstaltet die S-Bahn ihren großen Abschiedstag von den Altbauzügen und damit auch von der BR 477.

Bei aller Liebe – fahren dürfen die Brüder die Altbau-S-Bahnen nicht

Kurios: Obwohl Jens und Mike Triebfahrzeugführer sind, ihren geliebten 477er durften und dürfen sie nicht fahren. „Wir erhielten dafür keine Ausbildung mehr, weil ihre Ablösung schon beschlossene Sache war“, berichtet Jens.

„Wir fahren die modernen Fahrzeuge der Baureihen 481, 485 und 480. Aber die im gesamten Netz, auf allen Strecken.“ Eine Lieblingsstrecke haben sie nicht. „Die sind alle schön, haben aber auch ihre kleinen Macken“, will Jens keinen großen Unterschied machen.

Beide lieben es, auf Abschnitten mit viel Grün zu fahren. Zum Beispiel nach Strausberg. „Da muss man aber besonders auf die Kinder an den Bahnübergängen achten, die es an dieser Linie gibt“, sagt er.

Lars ist ein wenig traurig, dass er als Einziger der Brüder kein Triebfahrzeugführer ist. „Als meine Lehre ins Haus stand, befand sich die Reichsbahn und damit die S-Bahn in der Schwebe. Die Familie riet mir, erst mal einen anderen Beruf zu lernen. Als Seiteneinsteiger reinzukommen, ist schwer. Vielleicht klappt es ja noch.“

Bis dahin nutzt er sie tagein, tagaus für den Weg zur Arbeit – mit einem Firmenticket noch preiswerter als die Einmalzahlung bei Jahreskarten.
Text/Foto: Michael-Peter Jachmann
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